Jerzy Montag über Strafbestand bei sexuellem Missbrauch (von Schutzbefohlenen)
Gastkommentar: Der grüne Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag ist gegen die Verschärfung des Straftatsbestands des sexuellen Missbrauchs. Ein schmaler Grat liegt zwischen falscher Libertinage und Prüderie.
Unangemessenes, unanständiges und verantwortungsloses Verhalten: So kann und so muss man wohl beurteilen, was zwischen einem 32-jährigen Lehrer und einer 14-jährigen Schülerin geschah. Insgesamt 22 Mal hatten beide sexuelle Kontakte miteinander. Der Lehrer wurde zunächst wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Das Oberlandesgericht Koblenz hob das Urteil wieder auf und sprach den Lehrer frei.
Zur Begründung führte das Gericht aus, die Schülerin sei diesem Lehrer nicht zur Erziehung oder Ausbildung anvertraut gewesen. Tatsächlich war der Lehrer weder Fach- noch Klassenlehrer der Schülerin, er war insgesamt nur drei Mal als Vertretung in der Klasse der Schülerin tätig und hat der Schülerin zu keinem Zeitpunkt Noten erteilt.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Urteil stellt einen Grenzfall dar, es ist aber konsequent und richtig. Zwar ist ein Lehrer, der ein sexuelles Verhältnis zu einer 14-jährigen Schülerin hat, als Pädagoge ungeeignet. Sein Verhalten zeugt von hoher Verantwortungslosigkeit und ungezügeltem Egoismus.
Es ist zu hoffen, dass dieser Lehrer in Zukunft nicht mehr als Pädagoge mit Minderjährigen arbeiten darf. Aber nicht alles, was unangemessen, unanständig oder verantwortungslos ist, muss auch als kriminelle Handlung bestraft werden. Manchmal ist der Verlust des Berufes Strafe genug.
Gerade im sexuellen Bereich ist die Grenze zwischen strafbarem und nicht strafbarem Verhalten schwer zu ziehen. Gerade hier bedarf es großen Fingerspitzengefühls. Es lohnt sich zweimal nachzudenken und nicht vorschnell zu urteilen. Klar ist, dass Bedrängungen, Nötigungen, Bedrohungen und gar Zwang und Gewalt kriminelles Unrecht und nicht zu dulden sind.
Viel schwieriger ist die Bewertung einvernehmlicher, von beiden Partnern gewollter und gewünschter sexueller Kontakte, wie dies zwischen dem Lehrer und der Schülerin war. Minderjährige lernen schon lange vor ihrem 18. Geburtstag ihre Sexualität kennen. Heute haben über 50 Prozent aller Jugendlichen unter 14 Jahren bereits erste sexuelle Kontakte und machen erste Erfahrungen mit Sexualität. Eine Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2012 zeigt, dass 4 Prozent der Mädchen, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, und 8 Prozent der Jungen aus deutschen Familien und 11 Prozent der Jungen aus Familien mit Migrationshintergrund bereits sogar schon Geschlechtsverkehr vor dem 14. Geburtstag haben.
Und ein vollzogener Geschlechtsverkehr geht deutlich weiter als bloße sexuelle Handlungen, die das Strafgesetz als Maßstab für eine Strafbarkeit ansieht. Es ist deshalb schon ein gewichtiger Eingriff des Staates in die Selbstbestimmung und freie Entwicklung von jungen Menschen, wenn - wie bei uns in Deutschland - alle einvernehmlichen und von beiden Seiten gewollte Sexualkontakte mit unter 14-Jährigen zu Straftaten ihrer Sexualpartner erklärt werden, wenn diese älter als 14 sind. Aber wenn man schon diese vom Gesetzgeber gezogene Grenze akzeptiert, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass grundsätzlich einvernehmliche und von beiden Seiten gewollte Sexualkontakte von und mit 14-Jährigen nicht unter Strafe stehen.
Von diesem Grundsatz gibt es aus gutem Grund viele Ausnahmen. Sie alle sind darauf ausgerichtet, die sexuelle Selbstbestimmung und Entfaltung junger Menschen einerseits vor Ausnutzung zu schützen, andererseits sie nicht durch Verfolgung ihrer Sexualpartner zu gängeln und zu beschneiden. Ein schmaler Grat, dem mit Vorsicht und größtmöglicher Sachlichkeit zu begegnen ist, will man nicht entweder in falsche Libertinage oder in Prüderie abgleiten.
Nicht immer ein besonderes Verhältnis
Werden wir konkreter: Tabu ist Sex mit Menschen unter sechzehn, die dem Sexualpartner zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anvertraut sind. Diese Grenze steigt sogar auf achtzehn, wenn der Sexualpartner die sich aus dem Verhältnis ergebende Abhängigkeit missbraucht.
Ganz allgemein verbietet das Gesetz Sexualkontakte zwischen Menschen über einundzwanzig mit solchen unter sechzehn, wenn die oder der Jüngere noch keine Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung entwickelt hat und der Ältere genau dies ausnutzt. Der Lehrer also, der mit einer 14-jährigen Schülerin Sexualkontakte hatte, stand mit einem Fuß sehr wohl im Gefängnis. Seine Bestrafung hing davon ab, ob die Schülerin schon fähig war, ihre sexuelle Selbstbestimmung auszuüben, ob sie also schon diesbezügliche Erfahrungen hatte und sich frei entschieden hat.
Offenbar hatte das Gericht hier keine Bedenken. War die Schülerin ferner diesem Lehrer zur Erziehung und Ausbildung anvertraut? Das Gericht war der Überzeugung, dass in einer Schule mit Hunderten von Schülern und Dutzenden Lehrern dieses besondere Verhältnis nicht zwischen allen Lehrern und allen Schülern besteht.
Dieses Ergebnis ist lebensnah und vernünftig. Der Lehrer war weder Fach- noch Klassenlehrer der Schülerin. Er hat ihr nie Noten erteilt und war an der Notengebung auch nicht beteiligt. Schließlich unterrichtete er auch nicht in der Klasse der Schülerin, sondern war insgesamt nur drei Mal in Krankenvertretung in der Klasse.
Nur nochmals zur Klarstellung. Der Lehrer war nach meiner Überzeugung verantwortungslos. Er hat sich unangemessen und unanständig verhalten. Aber er hat sich nicht kriminell an der Schülerin vergangen. Er wird als Lehrer sicher nicht mehr arbeiten dürfen, aber er muss für sein Verhalten nicht bestraft werden.
Es gibt Stimmen in der rechtspolitischen Diskussion, die sich damit nicht abfinden und die gesetzlichen Grundlagen ändern wollen. Sie wollen einvernehmliche und von beiden Seiten gewollte Sexualkontakte unter Strafe stellen und dabei nicht auf Besonderheiten zwischen den Sexualpartnern, sondern auf ihre berufliche Stellung allein oder auf den Altersunterschied für sich abstellen. Dahinter verbergen sich Moralvorstellungen über "richtiges" und "falsches" sexuelles Verhalten, die ein selbstbestimmtes Ausleben von Sexualität ablehnen.
Nicht der Schutz einer lernenden und erkundenden sexuellen Erfahrung und Selbstbestimmung von jungen Menschen steht bei diesen Überlegungen im Mittelpunkt, sondern die Durchsetzung einer prüden Sexualmoral. Davor kann man nur warnen, auch dann, wenn sich diese Überlegungen mit Argumenten des Kinder- und Jugendschutzes tarnen.
Kinder- und Jugendschutz kann nur mit den Betroffenen und nicht gegen sie und ihre Interessen erfolgreich sein. Der Freiheit gehört der Vorzug, staatlicher Schutz sollte nur dort eingreifen, wo ein Ungleichgewicht und eine Ausnutzung der Schwäche vorliegt. Das ausbalancierte Sexualstrafrecht in Deutschland garantiert diesen Schutz ohne bevormundend in Sexualkontakte hinein zu regieren, die einvernehmlich, von beiden Seiten gewollt und damit Privatsache sind.
Zur Person
Jerzy Montag, Jahrgang 1947, arbeitet seit 1975 als Rechtsanwalt in München. Er ist Fachanwalt für Strafrecht. Er ist seit 2002 Mitglied des Bundestages und rechtspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Montag ist verheiratet und Vater zweier Kinder.